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10.11.2000
Im Wortlaut: "Es geht um unser Land"Spiegel mahnt in Berlin mehr Zivilcourage anDer Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, hat die Deutschen dazu aufgerufen, mehr Mut zu beweisen. Spiegel sprach am Donnerstag bei der Berliner Demonstration gegen Rechtsextremismus und anlässlich des Gedenkens an die Pogromnacht 1938. Die Frankfurter Rundschau dokumentierte die von dpa übermittelte Rede in Auszügen:
Die Erinnerungen an die Geschehnisse von damals werden spontan gegenwärtig, wenn wir die Bilder der letzten Wochen und Monate sehen: Wenn Synagogen angegriffen und geschändet werden, wie etwa in Lübeck, Erfurt, in meiner Heimatstadt Düsseldorf und auch hier in Berlin. Wir sehen voll Zorn und Verbitterung die Bilder, wenn Menschen durch die Straßen gejagt werden, wenn sie öffentlich geschlagen, immer öfter auch getötet werden. Können Sie sich vorstellen, welche Erinnerungen diese Verbrechen in uns Juden auslösen, auslösen müssen? [...] Können Sie sich vorstellen, was in uns vorgeht, wenn wir erleben müssen, wie schon wieder deutsche Menschen unsere Synagogen anzünden, unsere Friedhöfe schänden, uns Mord- und Bombendrohungen ins Haus schicken? [...] Was wir fast täglich erleben, hat nichts mehr mit Anfängen zu tun. Wir befinden uns bereits mittendrin im Kampf gegen rechts. [...] Ich bin überzeugt, dass die Mehrheit im Land Rechtsradikalismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit ablehnt. Aber diese Mehrheit darf nicht länger schweigen. [...] Das Deutschland des Jahres 2000 ist nicht das Deutschland des Jahres 1938. Die 'Berliner Republik' ist nicht die 'Weimarer Republik'. Aber wird dieser Staat in zehn Jahren immer noch eine demokratische, eine offene, eine liberale Republik sein, wie es die 'Bonner Republik' war? [...] Nur wenige sind Helden. Nur wenige haben den Mut einzugreifen, wenn sie Zeuge werden, wie Skinheads einen wehrlosen Mann, eine wehrlose Frau und - ja auch das mittlerweile - wehrlose Kinder auf offener Straße überfallen und zusammenschlagen. Aber jeder von uns ist in der Lage, die Polizei zu rufen. Und jeder von uns ist in der Lage, bereits im Kleinen einzuschreiten, in seinem Lebensumfeld. Wenn am Stammtisch abfällige Witze über Juden, Türken, Farbige und Schwule erzählt werden. Wenn am Arbeitsplatz ein Fremder benachteiligt, schlecht behandelt wird. Reden Sie mit Ihren Freunden und Arbeitskollegen, wenn sie dies tun! Reden Sie mit dem Betriebsrat und demonstrieren Sie somit immer wieder Ihre Opposition! Straßen und Stammtische dürfen nicht dem braunen Pöbel überlassen werden. Ich freue mich, dass es soviele sind, die der rechtsextremen Gewalt auf unseren Straßen mit dieser Demonstration sagen: 'Schluss jetzt! Es ist genug! Wir lassen es uns nicht mehr gefallen, dass hierzulande Menschen wieder Angst haben müssen!' Wir dürfen bei der Bekämpfung von Rechtsradikalismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit nicht inne halten. Denn es geht nicht allein um uns Juden, um Türken, um Schwarze, um Obdachlose, um Schwule. Es geht um dieser Land, es geht um die Zukunft jedes einzelnen Menschen in diesem Land. Wollen Sie eines Tages von Glatzköpfen und deren Vordenkern regiert werden? Das ist die Frage, um die es wirklich geht. Nicht wie viele Ausländer dieses Land verträgt. Machen Sie Ihre demokratisch gewählten Politiker mitverantwortlich für das, was hier geschieht. Was nützt es, in einer Sondersitzung des Deutschen Bundestages nach den Attentaten auf die Synagogen in Düsseldorf und Berlin in wohlklingenden Reden den Antisemitismus zu verdammen, wenn einige Politiker am nächsten Tag Worte wählen, die missverstanden werden können? [...] Was soll das Gerede um die Leitkultur? Ist es etwa deutsche Leitkultur, Fremde zu jagen, Synagogen anzuzünden, Obdachlose zu töten? [...] In Artikel 1 des Grundgesetzes heißt es: 'Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu schützen ist die Aufgabe staatlicher Gewalt.' Die Würde des Menschen - aller Menschen ist unantastbar, nicht nur die des mitteleuropäischen Christen! [...] Meine Damen und Herren Politiker: Überlegen Sie, was Sie sagen, und hören Sie auf, verbal zu zündeln! Schützen Sie die Menschen in diesem Land und schaffen Sie Rahmenbedingungen, damit wir alle gemeinsam leben können. Nur so werden Sie allen Bürgern, nicht-jüdischen und jüdischen, sich selbst und der ganzen Welt beweisen können, dass diese Deutschland im Jahr 2000 wirklich eine demokratische Zukunft hat." Quelle: Frankfurter Rundschau vom 10.11.2000
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