Wir Über uns  


27.10.2003
Flugblatt des Bundesbüros der VVN-BdA zum 9. November 2003:

Gedenken alleine reicht nicht aus!

VVN-BdA zum Jahrestag der antijüdischen Pogrome vom 9. November 1938

Am 9. November 2003 sollte auf dem Münchner Jakobsplatz eine Bombe explodieren. Ziel des Attentates: die Grundsteinlegungsfeier für einen Synagogen-Neubau und ein jüdisches Gemeindezentrum. Der Anschlag konnte gerade noch verhindert werden.

In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 hatte NS Propagandaminister Joseph Goebbels von München aus - der damaligen Nazi-»Hauptstadt der Bewegung« - reichsweit zu antijüdischen Pogromen aufgerufen. Überall in Deutschland brannten daraufhin Synagogen, Schaufenster von jüdischen Geschäften wurden zerschlagen und ausgeraubt. 20 000 männliche Juden wurden in die Konzentrationslager verschleppt.

Ort, Datum und Ziel für ihren geplanten Anschlag in München hatten die Terroristen der Neonaziformation »Kameradschaft Süd« bewusst gewählt. Zum 9. November 2003, 65 Jahre nach dem Pogrom von 1938, sollte ein unübersehbares faschistisches und antisemitisches Zeichen gesetzt werden, mit Mord und Totschlag und der Verbreitung von Angst und Schrecken.

Antisemitismus nicht nur bei Neonazis

Nach der Aufdeckung dieses Vorhabens, nach den Sprengstoff- und Waffenfunden mangelte es zwar nicht an betroffenen Lippenbekenntnissen - aber so richtig wundern mochten sich nur wenige über die antisemitische Stoßrichtung des Naziterrors. Werden doch inzwischen beinahe jede Woche Gedenkstätten für Opfer des NS-Regimes und jüdische Grabstätten geschändet. Hat doch der Antisemitismus in mannigfacher Form wieder Eingang gefunden ins öffentliche Leben dieses Landes. Nicht nur am äußerst rechten Rand dieser Gesellschaft, sondern auch in ihrer politischen und intellektuellen Mitte. »Die Juden« werden kollektiv verantwortlich gemacht für die Militärpolitik der israelische Staatsregierung. Das Gedenken an die Opfer des Holocausts wird geschmäht oder zumindest relativiert: Aufgerechnet werden diese Opfer gegen die Zahl der Toten, Verwundeten und Vertriebenen, die als Auswirkung von Naziherrschaft und Krieg schließlich auch das Verfolgerland verzeichnen musste.

Debatten, wie sie mit den Namen Walser und Möllemann verbunden waren, stehen für solche Umwertungen des Opfer-Täter-Verhältnisses. Und sie bereiten den Boden für die Verbreitung alter und neuer antisemitischer und rassistischer Ressentiments, bis hin zu der These, dass »die Juden« ja letztlich selbst schuld am Antisemitismus seien.

  

Für Humanismus und Demokratie

Mit dem jährlichen Gedenken an den 9. November 1938 ehren wir die Menschen, denen in und seit jener Pogromnacht - legitimiert durch die deutsche Rassegesetzgebung - als »Nichtarier« zuerst das Bürgerrecht eingeschränkt und schließlich im Dauerpogrom der »Endlösung der Judenfrage« das Leben genommen wurde.

Das Nein zum Antisemitismus und jede moralische Entrüstung über den aktuellen Antisemitismus bleiben wichtig. Sie reichen jedoch nicht aus, um im Denken tiefverwurzelte antisemitische Vorurteile zu überwinden. Die Erinnerung an den 9. November und seine Folgen müssen ihren Platz im gesellschaftlichen Leben unseres Landes behalten. Auch damit nie wieder dieser primitive Mechanismus der Erklärung von Krisen und Katastrophen mit (organisierter) Pogromstimmung gegen Sündenböcke funktioniert.

Seit den Anfängen der staatlichen Legitimierung der christlichen Kirchen hat eine Hass gegen Juden schürende Bibelauslegung eine entsetzliche Blutspur durch die Jahrhunderte gezogen. Im törichten Triumph, das einzig wahre Gottesvolk der Getauften zu sein, wurden die Juden wegen der angeblichen Erbschuld an der Kreuzigung Christi immer wieder dem Brudermord preisgegeben. Aus politischen und wirtschaftlichen Interessen wurden Pogrome und Kreuzzüge organisiert.

Als im deutschen Faschismus nicht nur die Parteigänger Hitlers sich als Herrenrasse feierten, wurden mit rechtskundiger Akribie zuerst den Juden die Bürgerrechte entzogen, bevor im Zweiten Weltkrieg die Ausrottung der Juden und Slawen Kriegsziel wurde, um in aller Bestialität der »arischen Rasse« neuen Lebensraum zu erobern.
Jährliches Erinnern an die Pogromnacht von 1938 hat auch die Aufgabe, die entschuldigenden Floskeln von: »Wir wussten doch gar nichts« bis zu: »Man konnte sowieso nichts machen« zu entlarven. Jedes Gedenken an die Opfer der faschistischen Ideologie ist aufs Neue eine Herausforderung zur Solidarität mit allen anders Glaubenden, anders Denkenden, anders Lebenden oder anders Aussehenden, die auch heute Bedeutung für Gerechtigkeit und Frieden hat.

Zivilcourage wurzelt im steinigen Boden der Kenntnis unserer Geschichte. Diese Kenntnis ist Bedingung dafür, dass nicht neue Entschuldigungsfloskeln zur Alibirhetorik verweigerter Solidarität werden. Solidarität ist heute wichtiger denn je. Sich gegen Antisemitismus und Neofaschismus zu engagieren bleibt gemeinsame Aufgabe für uns alle, unabhängig von Religion, Weltanschauung und Herkunft.

Aus der Erfahrung unserer Geschichte wissen wir: Der Antisemitismus ist nicht allein eine Bedrohung jüdischer Menschen - er richtet sich gegen jegliche Form demokratischen und humanistischen Lebens. Deshalb müssen wir uns ihm auch gemeinsam entgegen stellen.


Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes -
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten
(VVN BdA) e.V.,

Bundesgeschäftsstelle: Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin,
Telefon: 030-29784174, Fax: 030-29784179, e-mail: bundesbuero@vvn bda.de



[Seitenanfang]  [Homepage]  [eMail]