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19.2.2006
Stefan Gleser

Kurt Albrecht zu Ehren

Truppen der Anti-Hitler Koalition befreien am 15. April 1945 das Konzentrationslager Bergen Belsen.

Ca. 120 Kilometer nordwestlich von der ehemaligen Folterkammer "wahrt" am 28. April der Divisionskommandeur Graf von Werner Bassewitz-Levetzow "Manneszucht" und "schreckt ab": Nicht ganz so gute Kameraden erschießen auf seinen Befehl hin den 17jährigen Kurt Albrecht aus Rodenbach wegen Fahnenflucht.

"Was damals rechtens war, das kann heute nicht Unrecht sein", sagte einmal ein deutscher Landesvater, der einen Deserteur nach Kriegsende zum Tod verurteilte.

Anderer Meinung sind die Schüler der 12. Klasse der Berufsbildenden Schule in Osterholz-Scharmbeck. Sie und der Rodenbacher Heimatforscher Gerold Scheuermann gingen dem allzu kurzen Leben des Kurt Albrecht nach.

Unter www.geschichtsatlas.de stellen die Schüler ihre mühselige Kleinarbeit dar.


Die Schüler:
Der Angeklagte stammte aus einer Arbeiterfamilie und war am 4. Juni 1927 in Rodenbach bei Kaiserslautern geboren worden. Seit August 1944  hatte er als Matrose bei der Marine gedient, wo er zuletzt als Melder im Marine Grenadier Regiment 5 eingesetzt war. Am  23. April hatte er sich bei Rotenburg an der Wümme per Fahrrad von seiner Einheit abgesetzt und  sich auf einem Bauernhof  Zivilkleidung besorgt.

André Gide:
Ich baue nur noch auf Deserteure.

Am folgenden Tag erregte er den Verdacht eines Hauptmanns der Wehrmacht, der ihn von einem Posten festnehmen ließ. Bei einer gründlichen Durchsuchung wurden keinerlei Wehrmachtspapiere bei ihm gefunden. Auf einem Zettel hatte er jedoch Namen von Orten notiert, die auf der Wegstrecke in Richtung Heimat liegen.

Ludwig Baumann, Vorsitzender der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz, wurde zum Tode verurteilt und saß zehn Monate, an Händen und Füßen gefesselt, in der Todeszelle:
"Jeden Morgen, wenn die Wachen wechselten, dachte ich, jetzt holen sie mich."

Bei der Befragung behauptete Albrecht, dass er weder zum Reichsarbeitsdienst noch zur Wehrmacht eingezogen worden  sei und dass er für einen Bauern arbeite. Der Hauptmann schenkte seinen Angaben keinen Glauben, zumal er noch einige Wehrmachtskleidungsstücke trug. Kurt Albrecht wurde in Richtung Gefechtsstation abgeführt.

Maria Fritsche in ihrem Buch "Entziehungen" - Österreichische Deserteure und Selbstverstümmler in der Deutschen Wehrmacht":
"Viele haben zu den Mutigsten und Anständigsten in der Deutschen Wehrmacht gehört. Aber egal, welche Motive die Deserteure hatten, eines hat jeder von ihnen erreicht: Mit jeder einzelnen Desertion ist die deutsche Wehrmacht geschwächt worden. Das war gut für die Menschen, das war gut für die Demokratie, und das hat, wenn auch nur in winzigen Portionen, die Chancen des Naziregimes auf einen militärischen Sieg verringert. ... Und deswegen wäre es wichtig, dass in einer demokratischen Republik außer Streit seht, Deserteure zu ehren, sie sozial und politisch anzuerkennen."

Nach einem Fluchtversuch zur Front wurde er erneut festgenommen. Bei seiner richterlichen Vernehmung in Buschhausen legte der Angeklagte schließlich ein Geständnis ab. Dort gab er zu, dass er seine Truppe verlassen habe, um nach Hause zu fahren.

Todesurteile wurden nicht nur bei Fahnenflucht verhängt, sondern auch bei: Kriegsverrat, Dienstentziehung durch Täuschung, Feigheit, Drohung gegen einen Vorgesetzten, Ungehorsam, Widersetzung (Den Befehl mit Gewalt oder Drohung verhindern), Nichtanzeige eines Kriegsverrats sowie bei "Übergabe an den Feind" (das Übergeben eines Platzes an den Feind, ohne zuvor alle Mittel zur Verteidigung erschöpft zu haben), Tätlicher Angriff gegen einen Vorgesetzten, Aufwiegelung (Das Aufhetzen von Wehrmachtsangehörigen gegen Vorgesetzte), Meuterei, Militärischer Aufruhr (Ein Zusammenschluss von mehr als drei Soldaten, um Widerstand zu leisten), Wachverfehlung (Seinen Posten verlassen, nicht in der Lage sein, den Befehl auszuführen)

Auch treffe seine ursprüngliche Angabe nicht zu, er sei in britische Kriegsgefangenschaft geraten. Dass er im Begriff gewesen sei, sich freiwillig bei der Gefechtsstation zurückzumelden, glaubten ihm die drei Marinerichter nicht.

Szene aus Konrad Wolfs Film "Ich war neunzehn":
Auf dem Fluss treibt ein Floß mit Galgen und einem Erhängten, ein Schild vor der Brust:
"Deserteur. Ich bin ein Russenknecht."

Sie verurteilten Kurt Albrecht zum Tode wegen "Fahnenflucht im Felde" und erkannten ihm die bürgerlichen Ehrenrechte ab. Als Gründe führte das Gericht u. a. an, dass er "nicht unüberlegt, sondern äußerst raffiniert vorgegangen sei".

Georg Geismann in: "Befehl ist Befehl - Vom Umgang mit der NS-Vergangenheit":
"Man lese einmal die Urteilsbegründungen von Kriegsgerichtsverfahren, in denen bis zur Kapitulation großmäulig von 'Manneszucht' - übrigens ein in die mir bekannten Sprachen nicht übersetzbares Wort -, vom Kampf bis zum letzten Mann und von Fahnenflüchtigen als charakterlosen Feiglingen und Drückebergern getönt wird, und führe sich dann vor Augen, wie die Herren Richter und Ankläger zumeist in der Etappe saßen, geschützt obendrein durch das sogenannte Haftungsprivileg, das sie später alle, wirklich alle, vor irgendwelchen unangenehmen Folgen bewahrt hat, wie manch einer von ihnen durch vorauseilenden Gehorsam mit seiner Urteilspraxis den eigenen Einsatz an der Front vermieden haben mag, und wie sie dann in erheblichem Maße die Justiz im (westlichen) Nachkriegsdeutschland, viele in hohen Ämtern, mitbestimmt haben. Schlimmer noch steht es mit Bezug auf die Generäle, die ihren Soldaten bis zum bitteren Ende die sogenannten soldatischen Pflichten und Tugenden eingehämmert haben, die für 'Führer und Reich' ihre Untergebenen in den Tod schickten, sei es durch Feindes oder durch Henkers Hand, die dabei von Heldentum faselten und die dann kurz vor oder nach Kriegsende fast alle pflichtvergessen türmten und sich verdrückten, um anschließend, nun wieder jeder von ihnen ganz schneidiger Maulheld, ihre Memoiren zu schreiben; Kapitäne im Rettungsboot, während die Mannschaft mit dem Schiff absoff."

Die Strafe sei "auch im Interesse der Aufrechterhaltung der Manneszucht geboten. (...) Die Zahl der Überläufer mehrt sich in gefährlichem Umfange".

Aus Boris Vians Lied "Der Deserteur"

Verweigert Krieg, Gewehr
Verweigert Waffentragen
Ihr müsst schon etwas wagen
Verweigert's Militär

Ihr Predigt, Kompliment
Doch wollt Ihr Blut vergießen
Dann lasst das Eure fließen
Verehrter Präsident

Der Verurteilte bat darum, die Todesstrafe nicht zu vollstrecken, sondern eine andere, mildere Möglichkeit der Bestrafung zu wählen. Seine Bitten blieben jedoch unberücksichtigt.

Aus Gottfried August Bürgers "Für wen du gutes deutsches Volk"

Für wen, du gutes deutsches Volk
Behängt man dich mit Waffen?
Für wen lässt du von Weib und Kind
Und Herd hinweg dich raffen?
Für Fürsten und für Adelsbrut
Und fürs Geschmeiß der Pfaffen.

War's nicht genug, ihr Sklavenjoch
Mit stillem Sinn zu ertragen?
Für sie im Schweiß des Angesichts
Mit Fronen dich zu plagen?
Für ihre Geißel sollst du nun
Auch Blut und Leben wagen?

Der Jugendliche wurde am 28. April 1945 um 20.24 Uhr auf dem Schießstand des Schützenplatzes in Osterholz-Scharmbeck hingerichtet. Er wurde zunächst an einen Pfahl gefesselt und schließlich von einem aus zehn Marinesoldaten bestehenden Kommando, das fünf Schritte vor ihm aufgestellt war, erschossen.

Ein Partisan aus Venetien, 1943:
"Wir wollen all diese lächerlichen Denkmäler für diejenigen, die 'fürs Vaterland gefallen sind', die uns in jedem Ort anstarren, zerstören und an ihrer Stelle Denkmäler für die Deserteure errichten. Diese Monumente für die Deserteure werden auch an diejenigen erinnern, die im Krieg starben, denn jeder von ihnen verfluchte dabei den Krieg und beneidete die Deserteure um ihr Glück. Widerstand entsteht aus Desertion."

Seine Leiche wurde vom Richtplatz entfernt und  Bürgermeister Urban zur Bestattung übergeben. Kurt Albrecht wurde am 1. Mai ohne kirchliche Zeremonie auf dem Scharmbecker Friedhof  begraben.

Norbert Blüm sagte einmal sinngemäß, dass in den Konzentrationslagern nur so lange gemordet wurde, wie die Front hielt. Jeder Deserteur schwächte die Front.

An diesem Tag verbreitete sich die Nachricht von dem Tode Hitlers, und es hieß, dass der Raum zwischen Bremen und Bremerhaven verteidigt werden solle und Osterholz-Scharmbeck in der Hauptkampflinie liege.

Norbert Mecklenburg: Hilfloser Antimilitarismus
"In allen zu Krieg gerüsteten Staaten mit Strafe bedroht und von der jeweils herrschenden Moral verurteilt, in römischer Zeit als 'desertores', die das 'sacramentum militiae' gebrochen haben, mit dem Tod bestraft, in christlichen Zeiten auch mit Exkommunikation, geköpft, gehängt, für vogelfrei erklärt, in den feudalabsolutistischen Macht- und Militärstaaten, mit ihren Zwangswerbungen, barbarischen Drillmethoden und Soldatenverkäufen, systematisch gejagt, mit Alarmschüssen, Glockenläuten und Kopfprämien, wenn sie eingefangen wurden, wie die Hunde mit Prügeln traktiert, zum 'Gassenlaufen' gezwungen, durch die Spießruten, oft mehrmals, Kleider abgerissen, Drauflosgehauen, bis Fetzen geronnenen Blutes herunterhingen, in den modernen Nationalstaaten und ihren ideologisch verbrämten imperialistischen Kriegen als Feiglinge, Vaterlandsverräter, unterm Faschismus als entartete Volksfeinde abgestempelt, im zweiten Weltkrieg von furchtbaren Juristen immer massenhafter verurteilt und exekutiert, öffentlich aufgehängt mit schmähenden Pappschildern um den Hals: 'Ich bin ein fahnenflüchtiger Feigling', nach 1945 aufs gründlichste vergessen, verdrängt, keine Rehabilitation, keine materielle Entschädigung, keine kollektive Erinnerungs- und Trauerarbeit für sie."

Nach Schätzungen der Historiker Manfred Messerschmidt und Fritz Wüllner wurden von deutschen Feldgerichten im Zweiten Weltkrieg 35.000 Urteile wegen "Fahnenflucht" ausgesprochen, darunter 22.750 Todesurteile. Etwa 15.000 Deserteure wurden hingerichtet. In seinem Buch "Mein Kampf" hatte Adolf Hitler die strafverschärfende Leitlinie bereits vorgegeben: "An der Front kann man sterben, als Deserteur muss man sterben."


Die Schüler haben bewirkt, dass in Rodenbach und Osterholz-Scharmbeck ein Platz bzw. ein Weg nach Kurt Albrecht benannt wurde. Kriegerdenkmäler sind in Stein gehauene Lügen. Davon haben wir genug. Rodenbach und Osterholz-Scharmbeck können sich rühmen, an einen zu erinnern, der nicht mehr auf seinesgleichen schießen wollte.

Nachtrag:

Nach einer verlorenen Schlacht stürzte sich der römische General ins Schwert und Ritterkreuzträger Bassewitz-Levetzow auf die Pension und den Posten des Landesbeauftragten der Johanniter-Unhilfe von 1952 bis 1964 für Niedersachsen-Bremen. "Aus Liebe zum Leben" titelt, unbefleckt und rein von der Erkenntnis der Schüler, die Mitarbeiterzeitung der Johanniter und präsentiert kommentarlos das Bild dessen, der alleine - wie Gerold Scheuermann schreibt - die Hinrichtung Kurt Albrechts hätte verhindern können.




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