Vor 60 Jahren, am 10. März 1946, wurden in Kaiserslautern zwei
Straßennamen geändert. Die nach dem ehemaligen bayrischen
Prinzregenten Luitpold benannte Straße, die von der Marienkirche zum
Bahnhof führt, hieß nun Dr.-Rudolf-Breitscheid-Straße.
Die Wittelsbacher Straße am Krankenhaus wurde zur
Ernst-Thälmann-Straße.
Damit sollte die endgültige Abkehr von der bayerischen Monarchie, die
das Hambacher Fest und den 48er Aufstand unterdrückt hatte, vollzogen
werden.
Stattdessen sollte das Leiden der Opfer des Faschismus sowie der Widerstand
von Sozialdemokraten und Kommunisten gegen den Nationalsozialismus ins
öffentliche Bewusstsein gerückt werden.
Pfälzische Volkszeitung, 12. März 1946
Feierliche Straßenumbenennung
Vertreter der Stadt Kaiserslautern, eine Delegation der Opfer des Faschismus
sowie zahlreiche Bürger unserer Stadt hatten sich Sonntagvormittag zu
einem feierlichen Akt am Pfaffbad eingefunden. Es galt, die Umbenennung der
Luitpoldstraße in Dr.-Rudolf-Breitscheid-Straße und die der
Wittelsbachers-Straße in Ernst-Thälmann-Straße vorzunehmen.
Nach einigen einleitenden Ausführungen des Herrn Bürgermeisters
Lippold sprach Ch. M. Kiesel Worte ehrenden Gedenkens für den von den
Hitler-Faschisten ermordeten Dr. Breitscheid. Dann wurde zum Zeichen der
brüderlichen Verbundenheit ein Kranz der Ortsgruppe Kaiserslautern der
Kommunistischen Partei unter dem neuen Straßenschild der
Dr.-Rudolf-Breitscheid-Straße angebracht.
Zum Gedenken des am gleichen Tage von den Hitler-Faschisten ermordeten Ernst
Thälmann ergriff A. Freiberg das Wort. Hier waren es die Sozialdemokraten,
die ihre Verbundenheit durch Überreichung eines Kranzes der Ortsgruppe
Kaiserslautern der SPD, der unter dem Straßenschild der neuen
Ernst-Thälmann-Straße angebracht wurde, zum Ausdruck brachten.
Auch die Ehrenwache, die während des ganzen Sonntags an den beiden
Gedenkschildern gestellt wurde, entsprach dem Geiste der beiden großen
Toten. Sozialdemokraten hielten die Ehrenwache an der Gedenktafel für
Ernst Thälmann und Kommunisten hielten die Ehrenwache an der Gedenktafel
für Dr. Rudolf Breitscheid.
Die feierliche Umbenennung war ein würdiger Auftakt für die
Großveranstaltung, die am gleichen Abend in der Fruchthalle
stattfand.
Pfälzische Volkszeitung, 12. März 1946
Weit über 3.000 Besucher füllten die Fruchthalle
Die Städt. Betreuungsstelle für Opfer des Faschismus
Kaiserslautern, welche der fürsorglichen Leitung von Charles Marie Kiesel
anvertraut ist, hatte zu einer großen Massenkundgebung in der Städt.
Fruchthalle aufgerufen. Daß dieser Ruf nicht ungehört verhallte,
bewies die ungeheure Menschenmenge, welche nicht nur den großen Saal
füllte, sondern sich auch auf der Galerie in dichter Masse drängte.
Am Vormittag war schon durch den feierlichen Akt der Umbenennung der
Luipoldstraße in Dr.-Rudolf-Breitscheid-Straße u. der
Wittelsbacherstraße in Ernst-Thälmann-Straße die Bedeutung
dieses Tages in vollem Maße nach außen hin dokumentiert worden.
Die Totenehrung
Der Oberbürgermeister von Kaiserslautern, Hr. Alex Müller,
eröffnete die Kundgebung. Seine Ausführungen gipfelten in der
Feststellung, daß die schrecklichen Opfer dieses hoffentlich letzten
Weltkrieges in jedem die Erkenntnis wachrufen müsse: "Nie wieder
Krieg!" Nachdem die für diesen Anlaß sehr glücklich
gewählte Ouvertüre zu "Coriolan" Ludwig van Beethovens, von
dem Orchester des Pfälz. Landestheaters unter H. L. Sulanke's Leitung
gespielt, verklungen war, begab sich bei gedämpften Trommelwirbel Hr.
Charles Kiesel ans Rednerpult und rief die ermordeten Genossen und Kameraden an
ihrem Ehrentag feierlich zum Appell. Alle Anwesenden erhoben sich von ihren
Sitzen. Der erste der Aufgerufenen Toten war das Mitglied des Parteivorstandes
und Vorsitzender der sozialdemokratischen Reichtagsfraktion Rudolf Breitscheid.
Ein zweiter Sprecher gab die Antwort: "Gefallen für die Freiheit,
ermordet am 28. August 1944 im Konzentrationslager Buchenwald".
Als nächster wurde Ernst Thälmann, der Vorsitzende der
Kommunistischen Partei, gerufen. Auch er fiel am gleichen Tag mit seinen
Leidensgenossen in Buchenwald. Dann folgten die Namen von Karl von Ossietzky,
Träger des Friedens-Nobelpreises; Erich Mühsam, Wilhelm Leuschner,
ferner unsere zehn Kaiserslauterer Mitbürger: Otto Michel, Georg Steiner,
Joh. Weichel, Alb. Schlachter, Frau Korn, Herr Herze, Hannelore Herze, Hugo und
Johanna Herze geb. Lazerus und Dr. Julius Wertheimer. Die zwölf Mannheimer
Sozialdemokraten, die im Jahre 1940 der Gestapo in die Hände fielen, als
nach einem Bombenangriff ihre illegale Kellerdruckerei ans Tageslicht kam.
Ferner wurde der 5000 gefallenen deutschen Antifaschisten gedacht, welche in
Spanien gegen Franco als freiwillige Kämpfer für ihre Idee starben,
der 400 deutschen Antifaschisten und Emigranten, die in den Reihen der
französischen Widerstandsbewegung gegen die deutsche Besatzungsmacht
fielen und zum Schluß wurden die 4,5 Millionen europäischen Juden
aller Nationen, Männer und Frauen, Greise und Kinder, feierlich gerufen,
welche von den Faschisten hingemordet wurden. Der russische Trauermarsch
"Unsterbliche Opfer, ihr sanket dahin" von einem Männerchor mit
Orchesterbegleitung vorgetragen, ließ die Totenehrung würdig
ausklingen.
Augenzeugen treten auf.
Dann traten die Zeugen auf. Deutsche Zeugen, welche der Hölle entronnen
sind und die alliierten Tatsachenberichte über die insgesamt 120
Konzentrations- und Vernichtungslager des dritten Reiches allen denen, die es
nicht fassen konnten, daß das deutsche Volk, welches Goethe, Kant,
Beethoven, und Dürer hervorbrachte, zu solchen Scheußlichkeiten
fähig ist, unwiderleglich bestätigten.
Als erstes legte Herr Pfarrer F. Seitz, der fünf Jahre in Dachau
zubringen mußte, sein Zeugnis vor aller Welt in schwungvoller,
formvollendeter Rede ab. Entsetzen rief die schreckliche Schilderung des
Hungertransports hervor, welcher die gequälten Opfer zum Kannibalismus
trieb. Der Redner schloß mit dem Aufruf: "Deutschland erwache! Aber
dieses mal zu friedlicher Zusammenarbeit auf dem Boden der wahren
Demokratie."
Als nächster Zeuge schilderte Herr Stadtrat Oskar Brill (11 Jahre
Zuchthaus und KZ) die Zustände in Buchenwald. Auch er bestätigte die
grauenvollen Mißhandlungen, deren Spuren er noch am eigenen Leibe
trägt. Er berichtete, daß trotz des Terrors der Bewachungsmannschaft
die Organisation und Bewaffnung der Lagerinsassen möglich war, sodaß
noch vor dem Eintreffen der Amerikaner, das gesamte Lager in der Hand der
Häftlinge war. Diese Organisationen, welche Angehörige aller im Lager
vertretenen Nationen umfaßte, kann der Ausgangspunkt einer kommenden
Verständigung mit dem Auslande werden. Herr Philipp Mees (6 Jahre
Zuchthaus und KZ) schilderte grauenvolle Einzelheiten von den
Verbrennungsöfen in Dachau.
Als Vertreter der politischen Emigration berichtete Herr Charles Kiesel von
dem Leben in der Illegalität in Frankreich während der deutschen
Besatzung. Er schilderte den Heldentum der deutschen Angehörigen der
internationalen Brigade, die in Spanien gegen Franco kämpften und das
Wunder von Madrid, nämlich, daß es trotz aller
Materialüberlegenheit den Faschisten nie gelang Madrid militärisch zu
bezwingen, vollbrachten. Er erzählte, wie die Gestapo nach dem Einmarsch
in Paris in seine Wohnung kam und in seiner Abwesenheit alles wegschleppten.
"Ich bin von Beruf Graphiker. Mein gesamtes Lebenswerk haben sie in
meinem Atelier zerrissen". In Scharen stießen die deutschen
Emigranten zu den Widerstandsbewegungen ihrer Gastländer, in Scharen
gingen sie in Frankreich ins Maquia und kämpften mit der Waffe in der Hand
gegen den faschistischen Unterdrücker, oder sie leisteten im Sondereinsatz
wichtige Spezialarbeit. Als endlich dieser grauenhafte Alpdruck von Deutschland
und der Welt genommen war, fanden wiederum die politischen Emigranten als
erstes den Weg zurück in die zerstörte Heimat. Sie wußten
genau, was sie antreffen würden, daß es sicher bequemer gewesen
wäre in den Gastländern zu bleiben, um so mehr, als sich mancher von
ihnen dort in den Jahren des illegalen Kampfes Verdienste erworben hatte. Doch
es war für sie eine Selbstverständlichkeit, sofort
zurückzukommen und am Neuaufbau eines besseren freien demokratischen und
sozialistischen Deutschland zu helfen.
Die erschütterndsten Zeugen wurden aber mit der Rezitation des Gedichts
"Die Kinderschuhe von Lublin" von Johannes R. Becher zitiert. Jeder
kennt den Bericht von dem Fund der Kinderschuhe in Lublin, die diesen armen
Wesen vor ihrer Verbrennung ausgezogen und zur entsprechenden Wiederverwertung
ins Reich verschachert wurden.
Die letzte Ansprache hielt Herr Karl Huber, Sonderbeauftragter beim
Oberpräsidium in Neustadt (11 Jahre KZ). Er gab einen Überblick
über die Zahl der in den KZ umgekommenen Opfer. Nach genauer Feststellung
beläuft diese bis jetzt sich auf 11 bis 12 Millionen, die alliierten
Schätzungen nennen 20 Millionen. Dann rechnete er mit den Nazis ab. Die
Entnazifizierung soll nicht nur Angelegenheit der Verwaltungsbehörde sein,
sondern eine solche des ganzen Volkes. Heute gibt jeder Pg. im Fragebogen an,
daß er nur gezwungen in die Partei eintrat und in den tiefsten Winkeln
seines Herzens alle Maßnahmen der Nazis mißbilligte. Der Redner
schlug vor, daß jeder Pg. in einer öffentlichen Veranstaltung
auftreten und den Zuhörern seine Angaben im Fragebogen vorlesen
müsse. Die Nazis haben versprochen "Wir bauen Deutschland
schöner wieder auf, als es war". Sie werden Gelegenheit bekommen, das
Versprechen einzulösen. Jedoch soll ein Unterschied zwischen diesen und
dem von vertrauenswürdigen Leuten als anständige Menschen
bestätigten Pg's. gemacht werden, welche für den demokratischen
Wiederaufbau Deutschlands benötigt werden.
Zum Schluß wurde eine von A. Müller selbst gehörte "SS-
Begrüßungsrede" im sattsam bekannten Nazistil als KZ-Kostprobe
vorgetragen. Mit dem Lied "Brüder zur Sonne, zur Freiheit" fand
die Kundgebung eine würdigen Abschluß. Hoffen wir, daß alle
Zuhörer und darüber hinaus das ganze deutsche Volk sich dem
Gelöbnis der Totenehrung anschließen:
"Wir beugen uns in Ehrfurcht vor der Größe der Opfer. Wir
geloben feierlich all unsere Kraft, all unsere Gedanken, unser ganzes Leben im
Sinne unserer Kämpfer, im Sinne dieser Opfer einzusetzen. Wir danken
ihnen!"
Hans Mattern