Wir Über uns  


23.4.2006
Stefan Gleser
Vor 60 Jahren:

Der Ehren- und Gedenktag für
die Opfer des Faschismus in Kaiserslautern

- Dokumentation -

Vor 60 Jahren, am 10. März 1946, wurden in Kaiserslautern zwei Straßennamen geändert. Die nach dem ehemaligen bayrischen Prinzregenten Luitpold benannte Straße, die von der Marienkirche zum Bahnhof führt, hieß nun Dr.-Rudolf-Breitscheid-Straße. Die Wittelsbacher Straße am Krankenhaus wurde zur Ernst-Thälmann-Straße.

Damit sollte die endgültige Abkehr von der bayerischen Monarchie, die das Hambacher Fest und den 48er Aufstand unterdrückt hatte, vollzogen werden.

Stattdessen sollte das Leiden der Opfer des Faschismus sowie der Widerstand von Sozialdemokraten und Kommunisten gegen den Nationalsozialismus ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden.

Wir dokumentieren die Artikel der Pfälzischen Volkszeitung vom 12. März 1946

Straßenumbenennungen

Die Luitpoldstraße wird in Rudolf-Breitscheid-Straße, die Wittelsbacher Straße in Ernst-Thälmann-Straße umbenannt.

Pfälzische Volkszeitung, 12. März 1946




Feierliche Straßenumbenennung

Vertreter der Stadt Kaiserslautern, eine Delegation der Opfer des Faschismus sowie zahlreiche Bürger unserer Stadt hatten sich Sonntagvormittag zu einem feierlichen Akt am Pfaffbad eingefunden. Es galt, die Umbenennung der Luitpoldstraße in Dr.-Rudolf-Breitscheid-Straße und die der Wittelsbachers-Straße in Ernst-Thälmann-Straße vorzunehmen.

Nach einigen einleitenden Ausführungen des Herrn Bürgermeisters Lippold sprach Ch. M. Kiesel Worte ehrenden Gedenkens für den von den Hitler-Faschisten ermordeten Dr. Breitscheid. Dann wurde zum Zeichen der brüderlichen Verbundenheit ein Kranz der Ortsgruppe Kaiserslautern der Kommunistischen Partei unter dem neuen Straßenschild der Dr.-Rudolf-Breitscheid-Straße angebracht.

Zum Gedenken des am gleichen Tage von den Hitler-Faschisten ermordeten Ernst Thälmann ergriff A. Freiberg das Wort. Hier waren es die Sozialdemokraten, die ihre Verbundenheit durch Überreichung eines Kranzes der Ortsgruppe Kaiserslautern der SPD, der unter dem Straßenschild der neuen Ernst-Thälmann-Straße angebracht wurde, zum Ausdruck brachten.

Auch die Ehrenwache, die während des ganzen Sonntags an den beiden Gedenkschildern gestellt wurde, entsprach dem Geiste der beiden großen Toten. Sozialdemokraten hielten die Ehrenwache an der Gedenktafel für Ernst Thälmann und Kommunisten hielten die Ehrenwache an der Gedenktafel für Dr. Rudolf Breitscheid.

Die feierliche Umbenennung war ein würdiger Auftakt für die Großveranstaltung, die am gleichen Abend in der Fruchthalle stattfand.


Gedenken an die Opfer des Faschismus

In der Fruchthalle findet eine Massenkundgebung mit über 3.000 Teilnehmern statt.

Pfälzische Volkszeitung, 12. März 1946

Weit über 3.000 Besucher füllten die Fruchthalle

Die Städt. Betreuungsstelle für Opfer des Faschismus Kaiserslautern, welche der fürsorglichen Leitung von Charles Marie Kiesel anvertraut ist, hatte zu einer großen Massenkundgebung in der Städt. Fruchthalle aufgerufen. Daß dieser Ruf nicht ungehört verhallte, bewies die ungeheure Menschenmenge, welche nicht nur den großen Saal füllte, sondern sich auch auf der Galerie in dichter Masse drängte. Am Vormittag war schon durch den feierlichen Akt der Umbenennung der Luipoldstraße in Dr.-Rudolf-Breitscheid-Straße u. der Wittelsbacherstraße in Ernst-Thälmann-Straße die Bedeutung dieses Tages in vollem Maße nach außen hin dokumentiert worden.

Die Totenehrung

Der Oberbürgermeister von Kaiserslautern, Hr. Alex Müller, eröffnete die Kundgebung. Seine Ausführungen gipfelten in der Feststellung, daß die schrecklichen Opfer dieses hoffentlich letzten Weltkrieges in jedem die Erkenntnis wachrufen müsse: "Nie wieder Krieg!" Nachdem die für diesen Anlaß sehr glücklich gewählte Ouvertüre zu "Coriolan" Ludwig van Beethovens, von dem Orchester des Pfälz. Landestheaters unter H. L. Sulanke's Leitung gespielt, verklungen war, begab sich bei gedämpften Trommelwirbel Hr. Charles Kiesel ans Rednerpult und rief die ermordeten Genossen und Kameraden an ihrem Ehrentag feierlich zum Appell. Alle Anwesenden erhoben sich von ihren Sitzen. Der erste der Aufgerufenen Toten war das Mitglied des Parteivorstandes und Vorsitzender der sozialdemokratischen Reichtagsfraktion Rudolf Breitscheid. Ein zweiter Sprecher gab die Antwort: "Gefallen für die Freiheit, ermordet am 28. August 1944 im Konzentrationslager Buchenwald".

Als nächster wurde Ernst Thälmann, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei, gerufen. Auch er fiel am gleichen Tag mit seinen Leidensgenossen in Buchenwald. Dann folgten die Namen von Karl von Ossietzky, Träger des Friedens-Nobelpreises; Erich Mühsam, Wilhelm Leuschner, ferner unsere zehn Kaiserslauterer Mitbürger: Otto Michel, Georg Steiner, Joh. Weichel, Alb. Schlachter, Frau Korn, Herr Herze, Hannelore Herze, Hugo und Johanna Herze geb. Lazerus und Dr. Julius Wertheimer. Die zwölf Mannheimer Sozialdemokraten, die im Jahre 1940 der Gestapo in die Hände fielen, als nach einem Bombenangriff ihre illegale Kellerdruckerei ans Tageslicht kam. Ferner wurde der 5000 gefallenen deutschen Antifaschisten gedacht, welche in Spanien gegen Franco als freiwillige Kämpfer für ihre Idee starben, der 400 deutschen Antifaschisten und Emigranten, die in den Reihen der französischen Widerstandsbewegung gegen die deutsche Besatzungsmacht fielen und zum Schluß wurden die 4,5 Millionen europäischen Juden aller Nationen, Männer und Frauen, Greise und Kinder, feierlich gerufen, welche von den Faschisten hingemordet wurden. Der russische Trauermarsch "Unsterbliche Opfer, ihr sanket dahin" von einem Männerchor mit Orchesterbegleitung vorgetragen, ließ die Totenehrung würdig ausklingen.

Augenzeugen treten auf.

Dann traten die Zeugen auf. Deutsche Zeugen, welche der Hölle entronnen sind und die alliierten Tatsachenberichte über die insgesamt 120 Konzentrations- und Vernichtungslager des dritten Reiches allen denen, die es nicht fassen konnten, daß das deutsche Volk, welches Goethe, Kant, Beethoven, und Dürer hervorbrachte, zu solchen Scheußlichkeiten fähig ist, unwiderleglich bestätigten.

Als erstes legte Herr Pfarrer F. Seitz, der fünf Jahre in Dachau zubringen mußte, sein Zeugnis vor aller Welt in schwungvoller, formvollendeter Rede ab. Entsetzen rief die schreckliche Schilderung des Hungertransports hervor, welcher die gequälten Opfer zum Kannibalismus trieb. Der Redner schloß mit dem Aufruf: "Deutschland erwache! Aber dieses mal zu friedlicher Zusammenarbeit auf dem Boden der wahren Demokratie."

Als nächster Zeuge schilderte Herr Stadtrat Oskar Brill (11 Jahre Zuchthaus und KZ) die Zustände in Buchenwald. Auch er bestätigte die grauenvollen Mißhandlungen, deren Spuren er noch am eigenen Leibe trägt. Er berichtete, daß trotz des Terrors der Bewachungsmannschaft die Organisation und Bewaffnung der Lagerinsassen möglich war, sodaß noch vor dem Eintreffen der Amerikaner, das gesamte Lager in der Hand der Häftlinge war. Diese Organisationen, welche Angehörige aller im Lager vertretenen Nationen umfaßte, kann der Ausgangspunkt einer kommenden Verständigung mit dem Auslande werden. Herr Philipp Mees (6 Jahre Zuchthaus und KZ) schilderte grauenvolle Einzelheiten von den Verbrennungsöfen in Dachau.

Als Vertreter der politischen Emigration berichtete Herr Charles Kiesel von dem Leben in der Illegalität in Frankreich während der deutschen Besatzung. Er schilderte den Heldentum der deutschen Angehörigen der internationalen Brigade, die in Spanien gegen Franco kämpften und das Wunder von Madrid, nämlich, daß es trotz aller Materialüberlegenheit den Faschisten nie gelang Madrid militärisch zu bezwingen, vollbrachten. Er erzählte, wie die Gestapo nach dem Einmarsch in Paris in seine Wohnung kam und in seiner Abwesenheit alles wegschleppten. "Ich bin von Beruf Graphiker. Mein gesamtes Lebenswerk haben sie in meinem Atelier zerrissen". In Scharen stießen die deutschen Emigranten zu den Widerstandsbewegungen ihrer Gastländer, in Scharen gingen sie in Frankreich ins Maquia und kämpften mit der Waffe in der Hand gegen den faschistischen Unterdrücker, oder sie leisteten im Sondereinsatz wichtige Spezialarbeit. Als endlich dieser grauenhafte Alpdruck von Deutschland und der Welt genommen war, fanden wiederum die politischen Emigranten als erstes den Weg zurück in die zerstörte Heimat. Sie wußten genau, was sie antreffen würden, daß es sicher bequemer gewesen wäre in den Gastländern zu bleiben, um so mehr, als sich mancher von ihnen dort in den Jahren des illegalen Kampfes Verdienste erworben hatte. Doch es war für sie eine Selbstverständlichkeit, sofort zurückzukommen und am Neuaufbau eines besseren freien demokratischen und sozialistischen Deutschland zu helfen.

Die erschütterndsten Zeugen wurden aber mit der Rezitation des Gedichts "Die Kinderschuhe von Lublin" von Johannes R. Becher zitiert. Jeder kennt den Bericht von dem Fund der Kinderschuhe in Lublin, die diesen armen Wesen vor ihrer Verbrennung ausgezogen und zur entsprechenden Wiederverwertung ins Reich verschachert wurden.

Die letzte Ansprache hielt Herr Karl Huber, Sonderbeauftragter beim Oberpräsidium in Neustadt (11 Jahre KZ). Er gab einen Überblick über die Zahl der in den KZ umgekommenen Opfer. Nach genauer Feststellung beläuft diese bis jetzt sich auf 11 bis 12 Millionen, die alliierten Schätzungen nennen 20 Millionen. Dann rechnete er mit den Nazis ab. Die Entnazifizierung soll nicht nur Angelegenheit der Verwaltungsbehörde sein, sondern eine solche des ganzen Volkes. Heute gibt jeder Pg. im Fragebogen an, daß er nur gezwungen in die Partei eintrat und in den tiefsten Winkeln seines Herzens alle Maßnahmen der Nazis mißbilligte. Der Redner schlug vor, daß jeder Pg. in einer öffentlichen Veranstaltung auftreten und den Zuhörern seine Angaben im Fragebogen vorlesen müsse. Die Nazis haben versprochen "Wir bauen Deutschland schöner wieder auf, als es war". Sie werden Gelegenheit bekommen, das Versprechen einzulösen. Jedoch soll ein Unterschied zwischen diesen und dem von vertrauenswürdigen Leuten als anständige Menschen bestätigten Pg's. gemacht werden, welche für den demokratischen Wiederaufbau Deutschlands benötigt werden.

Zum Schluß wurde eine von A. Müller selbst gehörte "SS- Begrüßungsrede" im sattsam bekannten Nazistil als KZ-Kostprobe vorgetragen. Mit dem Lied "Brüder zur Sonne, zur Freiheit" fand die Kundgebung eine würdigen Abschluß. Hoffen wir, daß alle Zuhörer und darüber hinaus das ganze deutsche Volk sich dem Gelöbnis der Totenehrung anschließen:

"Wir beugen uns in Ehrfurcht vor der Größe der Opfer. Wir geloben feierlich all unsere Kraft, all unsere Gedanken, unser ganzes Leben im Sinne unserer Kämpfer, im Sinne dieser Opfer einzusetzen. Wir danken ihnen!"

Hans Mattern

Siehe auch: Faksimile obiger Artikel (183 KB):




Mehr zu Rudolf Breitscheid: www.dhm.de/lemo/html/biografien/BreitscheidRudolf

Mehr zu Ernst Thälmann: www.thaelmann-gedenkstaette.de

Stefan Gleser




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