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Rundbrief 1/2000
Februar 2000
Artikel 3
9. November 1999
61. Jahrestages der Reichspogromnacht

Redebeitrag von Roland Paul

auf der Veranstaltung auf dem Synagogenplatz in Kaiserslautern

Heute jährt sich eines der traurigsten und beschämensten Ereignisse der deutschen Geschichte zum 61. Mal, die sogenannte "Reichskristallnacht". Am 9. November 1938 ordneten die Nationalsozialisten die Zerstörung der jüdischen Gotteshäuser in ganz Deutschland an. Die Ausschreitungen, die daraufhin in ganz Deutschland geschahen, waren auf einen Boden gestoßen, der von den Nationalsozialisten lange vorbereitet war - auch hier in Kaiserslautern.

In Kaiserslautern war im 19. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung und des Ausbaus zu einer wichtigen Handelsmetropole der Westpfalz eine blühende, recht wohlhabende jüdische Gemeinde entstanden. Als Ausdruck ihres Selbstbewusstseins errichtete sie nach den Plänen des Karlsruher Architekten Ludwig Levy in den 1880er Jahren im "maurisch-byzantinischen Stil" an diesem Platz eine stattliche Synagoge. Sie wurde jahrelang als "Zierde der Stadt" und als "Perle unter den monumentalen Bauten" der Pfalz bezeichnet.

Bai Ausbruch des 1. Weltkrieges veranstalteten die Kaiserslauterer Juden in ihrer Synagoge Bittgottesdienste für Kaiser, König und Vaterland. Die jungen jüdischen Männer aus Kaiserslautern meldeten sich bei Kriegsausbruch wie ihre gleichaltrigen christlichen Freunde freiwillig zu den Waffen. Einer von ihnen war der Medizinstudent Friedrich Vendig. Er fiel 1916 in den Kämpfen vor Verdun. Zum Andenken an ihren Sohn begründeten seine Eltern noch im gleichen Jahr die mit einem Stiftungskapital von 5.000 Mark ausgestattet "David und Lina Vendig-Kriegerstiftung". Jährlich, am Geburtstag des gefallenen Sohnes, sollten von den Zinsen ortsansässige hilfsbedürftige Soldaten, Kriegerwitwen und Kriegswaisen, später die Armen der Stadt unterstützt werden, ohne Rücksicht auf den Glauben. Doch diese Großzügigkeit und der hohe Blutzoll wurde weder den Vendigs noch den anderen elf jüdischen Familien aus Kaiserslautern, deren Söhne und Brüder im ersten Weltkrieg gefallen waren, von ihren christlichen Mitbürgern gedankt.

Mit Beginn der Naziherrschaft mussten sich auch die Juden in unserer Heimat sagen lassen, dass sie als "Nichtarier" nicht die gleichen Rechte hätten wie die Angehörigen der sogenannten "nordischen Rasse". Unbescholtene gute Bürger wurden jetzt verunglimpft und verfolgt. Antisemitische Strömungen waren jedoch in Kaiserslautern nichts neues. Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert erregte der hiesige Buchhändler August Gotthold, dessen Vorfahren selbst getaufte Juden waren, mit den von Ihm verlegten antisemitischen Schriften großes Aufsehen. Wenn auch das Verhältnis zwischen Juden und Christen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nach außen hin als gut galt, unterschwellig waren aber stets antijüdische Strömungen spürbar, wie mir Zeitzeugen bestätigt haben. Die nationalsozialistische Wochenzeitung "Der Eisenhammer", die seit März 1926 zunächst in Pirmasens, dann in Lambrecht erschienen ist und zeitweise hohe Auflagen hatte, war maßgeblich an der frühen Judenhetze in der Pfalz beteiligt. Ihr Hauptschriftleiter und später Eigentümer, der Dannenfelser Bürgermeister Fritz Heß, beschrieb darin eine Greuelpropaganda, die Julius Streichers "Stürmer" kaum nachstand. Schon bald nach der Machtübernahme hatte im April 1933 mit dem Boykott jüdischer Geschäfte, Anwaltskanzeleien und Arztpraxen die menschenverachtende Politik der Nationalsozialisten ihren Anfang genommen. Juden sollten aus dem Wirtschaftsleben und dem öffentlichen Dienst ausgeschaltet werden. Viele Betroffene sahen sich in ihrer Not zur Emigration ins Ausland gezwungen.

Die im September 1935 beschlossenen "Nürnberger Gesetze" erkannten den Juden bürgerliche Rechte ab und verboten "Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes". Auch an den Eingängen pfälzischer Städte und Gemeinden, in Badeanstalten und Parkanlagen wurden Schilder aufgestellt mit der Aufschrift "Juden sind hier unerwünscht" oder "Juden und Hunden ist der Zutritt verboten". In Kaiserslautern stand direkt neben der Stiftskirche ein "Stürmerkasten".

Angesichts dieser Demütigungen verließen auch viele Kaiserslauterer Juden, vor allem die jüngeren, ihre Heimatstadt, emigrierten ins benachbarte europäische Ausland, nach Palästina, Nord- oder Südamerika. Viele ältere blieben. Sie verstanden die Welt nicht mehr. So schrieb der 82jährige Vorsitzende des Rabbinatsbezirks Bad Dürkheim-Ludwigehafen, Ludwig Strauß, 1937 "62 Jahre bin ich mit der Dürkheimer Gemeinde verbunden. Dass ich heute in den späten Herbsttagen meines Lebens noch den Zerfall meiner vormals so blühenden und wohlhabenden Gemeinde erleben muss, das ist für mich eine Betrübnis, die bis an mein Ende in mir haften wird." Und wenige Monate später schrieb er: "Die Jugend verlässt uns, eine vergreiste Gemeinde bleibt zurück. Aber je mehr unsere Zahl zusammenschrumpft - um so treuer und fester wollen wir zusammenarbeiten, uns brüderlich und schwesterlich zur Seite stehen,.."

In Kaiserslautern musste die prächtige Synagoge bereits im Spätsommer 1938 weichen. Oberbürgermeister Imbt ließ im Juli den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Kaiserslautern, Justizrat Dr. Blüthe, ins Stadtbaus rufen und teilte ihm mit, dass die Synagoge nicht in das Stadtbild und in den Plan zur Erweiterung und Verschönerung der Stadt passe. Rabbiner Dr. Sally Baron schrieb dazu in seinen Erinnerungen: "Wenige Tage darauf versammelte sich die Gemeinde in der Synagoge, um ihre erzwungene Einwilligung hierzu abzugeben. Schweigen und Trauer lag über dieser Versammlung und es wagte selbstverständlich niemand ein Wort des Widerspruches. Der Vorsteher ließ sich beauftragen, den Wunsch an die Stadtgemeinde zu richten, dass wenigstens bis nach den kommenden hohen Feiertagen die Synagoge der Gemeinde überlassen bliebe. Aber dieses Gesuch wurde abgelehnt oder gar nicht beantwortet. Donnerstag, den 25. August wurde dem Vorsteher beschieden, dass vom kommenden Sonntag ab die Synagoge nicht mehr von der Gemeinde benutzt werden dürfe. Am Samstag, dem 27., hielt der Rabbiner vor dem Havdalah (das am Ausgang des Sabbats gesprochene, von besonderen Zeremonien begleitete Gebet) eine letzte Rede, die Abschiedspredigt in der Synagoge. In ungewöhnlicher Zahl war die Gemeinde versammelt, schmerzerfüllt, dass sie die ihr so liebe Synagoge hergeben musste, dass dies der letzte Gottesdienst in ihr sein müsse, den sie unter Weinen mit dem Sprechen der drei jüdischen Bekenntnissätze beschloss, und gleichsam wie das letzte Aufflackern des Lebenslichtes eines Sterbenden leuchtete das Licht der Havdalahkerze..."

Bald darauf erfolgte die Sprengung der Synagoge, was auf Veranlassung der Stadt in einem Film festgehalten wurde.
"Wir haben die Berechtigung", so heißt es in einer Verlautbarung in der "NSZ-Rheinfront" vom 29. August 1938, "diesen Abbruch der Synagoge als siegesfrohes Ruhmesblatt in das Geschichtsbuch einer nationalsozialistischen Stadt einzufügen."
Und als der Film wenige Wochen nach dem Abbruch den Herren Ratsmitgliedern vorgeführt wurde, gaben diese wohlgefällig, ich zitiere aus dem Ratsprotokoll, "ihre Befriedigung über die neue Art der Gemeinschaftsarbeit mit der Stadtverwaltung in anerkennenden Worten Ausdruck."

Die sogenannte "Kristallnacht" war dann der Höhepunkt der Judenverfolgung in Deutschland. Es sollte die Rache des Deutschen Reiches auf das wenige Tage zuvor in Paris verübte Attentat eines jungen polnischen Juden an dem deutschen Botschaftsangehörigen Ernst vom Rath sein. Die "Aktionen... sind nicht zu stören", befahl Gestapo-Chef Müller in einem Fernschreiben aus Berlin allen Gestapo-Stellen im Reich. Dort, wo Nachbargebäude der nichtjüdischen Bevölkerung hätten in Mitleidenschaft gezogen werden können, sah man von einer Brandsetzung ab, schleppte mitunter aber Einrichtungsgegenstände und sogar Thorarollen ins Freie, zündete sie an oder verwüstete die Synagogen im Innern. 21 Synagogen wurden damals in der Pfalz zerstört oder angezündet, ungezählte jüdische Geschäfte und Wohnungen verwüstet, Menschen misshandelt und in Konzentrationslagern eingesperrt.

In Kaiserslautern fielen am 10. November über einhundert jüdische Geschäfte und Wohnungen dem blindwütigen Vandalismus fanatischer Nationalsozialisten zum Opfer. Einer der Zerstörungstrupps wurde sogar von einem Gymnasiallehrer geleitet. Mit seinen Schülern beteiligte er sich an der Zerschlagung fremden Eigentums. Rabbiner Dr. Baron schrieb über die Ereignisse an diesem Tag: "Am Abend dieses schrecklichen Tages, an dem in Kaiserslautern alle männlichen jüdischen Personen zwischen 16 und 65 Jahren in das Konzentrationslager Dachau überführt wurden, kamen um 7 Uhr Abgesandte der Partei in alle jüdischen Häuser und erklärten, dass die gesamte jüdische Bevölkerung der Stadt bis Mitternacht die Pfalz zu verlassen habe. Mit Handgepäck und Rucksack mussten sie unter dem Gejohle des Pöbels, der auf den Straßen Spalier stand und sie verspottete, zur Bahn ziehen, denn Fuhrwerke zu benutzen war ihnen verboten, und auch sonst wagte niemand von der Bevölkerung ihnen irgendwie behilflich zu sein." Der angesehene jüdische Arzt Dr. Wertheimer nahm sich am Abend des 10. November aus Verzweiflung das Leben; seine psychisch erkrankte Tochter wurde später von den Nazis in einer sogenannten Reichsanstalt ermordet. Rechtsanwalt Dr. Robert Tuteur beging am 1. Dezember 1938 im Konzentrationslager Dachau Selbstmord.

Das Ende der alten jüdischen Gemeinde Kaiserslautern kam 1940. Im Oktober 1940 wurden über 6500 Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland an diesem Tag auf Betreiben des Badischen Gauleiters Robert Wagner und des Gauleiters der Saarpfalz, Joseph Bürckel, in das im unbesetzten Frankreich gelegene Internierungslager Gurs deportiert. Für viele von ihnen war dies nur eine Zwischenstation in die Vernichtungslager von Auschwitz, Majdanek, Sobibor und Buchenwald.

die Gaskammern der Konzentrationslager überlebt: Willi Bender, Else Hene, Emil Hene, Ernst Heimann, Richard Kohlmann, Else Kohlmann, Maria Kühn, Hermine Lacher, Betty Preis und Richard Schwarzschild.

Eine mit einem Juden verheiratete Christin aus Kaiserslautern wurde 1943 wieder aus Frankreich nach Deutschland zurückgebracht und zur Zwangsarbeit eingesetzt. Zwei Mädchen gelang die Flucht in die Schweiz. Fünf Kinder wurden dank des Einsatzes von Hilfsorganisationen, aber auch durch das Engagement einzelner Franzosen, in Kinderheime gebracht. Sie überlebten. Eine Frau konnte noch im Februar 1942 nach den USA auswandern. Acht Frauen und Männer durften 1945 die Befreiung erleben, einige blieben in Frankreich, andere wanderten in die Vereinigten Staaten aus. Bertha Werle und Rosalie Fröhlich kehrten nach Kriegsende nach Kaiserslautern zurück, entkräftet und abgemagert.

Auch während des Krieges, 1942 und 1943, sind einzelne jüdische Personen, die 1940 noch hier bleiben konnten, in die Konzentrationslager, vor allem nach Theresienstadt, deportiert worden. Unter ihnen waren beispielsweise Jeannette Korn, geb. Löwenstein und ihre 20jährige Tochter Erna Korn. Der Vater war Christ, stammte aus Erlenbach, starb aber schon 1930. Die Tochter, geboren 1923 in Kaiserslautern lebt heute noch im Emsland. Sie erinnert sich noch lebhaft an ihren Schulbesuch in der Barbarossaschule, später bei den Franziskanerinnen, vor allem aber an die Pogrome im November 1938, als ihre gesamte Wohnungseinrichtung zertrümmert wurde und sie mit ihrer Mutter an das Grab des Vaters auf dem Lauterer Friedhof flüchtete, um sich dort auszuweinen. 1940 sollten sie nach Gurs deportiert werden. Ihr Hausarzt bewahrte sie durch ein ärztliches Attest vor dem Transport. 1942 sollten sie beide wieder deportiert werden. Doch man ließ sie schließlich zunächst in Ruhe. 1943 wurden sie schließlich von der Gestapo abgeholt. Sie kamen nach Auschwitz-Birkenau. Die Mutter wurde dort 1943 ermordet. Die Tochter kam dann als Halbjüdin in das Lager Ravensbrück, wo sie schließlich 1945 die Befreiung erleben durfte. Nur wenige der überlebenden Kaiserslauterer Juden kehrten nach dem Krieg wieder in ihre Heimatstadt zurück. Zu vieles hatten sie hier erleben müssen. Das Zusammenleben mit Menschen, die ihnen das Leben so schwer gemacht haben, wäre für sie auf die Dauer nicht tragbar gewesen.

Heute leben noch einige Dutzend Kaiserslauterer Juden im Ausland, in Israel, Südafrika, -Südamerika, Frankreich, Schweden, insbesondere in den USA. Mehrere von ihnen habe ich dort in den letzten 20 Jahren besucht. Einige möchten nie mehr in ihre Heimat zurückkehren. Andere waren schon wiederholt zu Besuch hier, wie z.B. Werner Maas, Herbert Tuteur und Gerda Kayem. Die meisten warten auf eine Einladung ihrer Heimatstadt, wie dies viele deutsche Städte, Kreise und Gemeinden schon längst getan haben. Die Stadt Kaiserslautern hat diese Einladung bis zum heutigen Tag nicht ausgesprochen. Auch hoffen die Überlebenden noch immer auf eine Gedenktafel für die nahezu 200 jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und auf eine würdigere Gestaltung dieses Platzes, wo einst die Synagoge stand.

Denn, so lautet eine jüdische Weisheit:

"Vergessen wollen verlängert das Exil -
Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung."

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